Michelle Dziony und Christian Grothe sind kein Paar und trotzdem ein Pärchen, das aus der Masse der Supertalent-Kandidaten herausfällt. Sie sind wie Johnny und Baby aus Dirty Dancing, doch geht es bei ihnen weniger darum, Konventionen zu brechen. Mit ihnen bringt RTL auf die Mattscheibe, was im Privatfernsehen meist nur eine Nebenrolle gibt: Behinderung.
Christian sitzt seit fünfeinhalb Jahren im Rollstuhl. Ein Motoradunfall hat ihn dorthin gebracht. RTL zeigt, was dem Sender in diesem Moment am voyeuristischsten erscheint: dramatische Bilder einer geschrotteten Maschine und Christian an Schläuchen, die sein Leben retten sollen. Er erzählt von den Schrauben in seiner Wirbelsäule, davon, dass er nur eine fünfprozentige Überlebenschance hatte, dass beide Lungenflügel kollabiert waren, und er trotz sechstündiger Notoperation vom Bauchnabel abwärts gelähmt ist. Was Christian dabei nicht abhanden kommt, sind die strahlenden Augen. Von Michelle hingegen erfährt der Zuschauer so gut wie nichts. Dramatischer lässt sich ein solches Pärchen kaum inszenieren.
Dem Zuschauer vor dem Fernseher hat RTL damit einen Bärendienst erwiesen. Denn man kann dem Tanz - oder wie sie es nennen: der Paarakrobatik - kaum zuschauen, ohne dabei nicht einen Hauch von Mitleid zu verspüren. Selbst wenn Supertalent-Juror Thomas Gottschalk später meint: «Was bei solchen Sachen ja immer ein bisschen die Gefahr ist, dass es einen Hauch von Peinlichkeit hat. Aber es war keine Sekunde.»
Doch trotz aller Zweischneidigkeit muss man RTL zu Gute halten, dass diese Supertalent-Show - wenn auch an vielen Stellen die Mitleidskarte gespielt wurde - eine Sendung mit Botschaft war. Sie hat einmal mehr gezeigt, das Behinderung im Privatfernsehen selten zu sehen ist, aber noch seltener nicht auf die Beeinträchtigung reduziert wird. Christian hat hier nun zeigen dürfen, was vielen Behinderten ganz selbstverständlich ist: dass sie sich nicht hinter ihrer Behinderung verstecken und sich von deren Grenzen beschränken lassen; dass Betroffene eigene Wege finden, ihr Leben mutig anzugehen und das Integration zwischen Menschen mit und ohne Behinderung eigentlich etwas ganz normales sein sollte.
Doch dass das, was normal ist, noch längst nicht angekommen ist, gibt - wenig überraschend - Dieter Bohlen von sich: «Das ist ja nicht gerade jetzt was, wozu du prädestiniert bist, durch den Unfall. Dass man sich dann in solche Gebiete traut...Wo man eigentlich sagt, Mensch, Tanzen, Rollstuhl, das passt überhaupt nicht.» Warum eigentlich nicht? Sollten Behinderte nicht tanzen? Oder nur nicht, wenn sie im Rollstuhl sitzen? Vorurteilsfreiheit sieht anders aus. Und auch wenn der Supertalent-Juror anders gemeint haben mag, was er sagte: Er zeigt, dass die Berührungsängste, die viele Menschen ohne Behinderung mit Behinderten haben, präsenter bleiben denn je.
Die Botschaft von Christian und Michelle schmälert das freilich nicht. Bitte mehr davon, aber möglichst ohne die RTL-typische Mitleidsinszenierung. Hoffentlich nimmt sich der Sender nicht nur für Das Supertalent zu Herzen, was Dieter Bohlen dann doch noch zu Protokoll gibt: «Ich möchte euch da natürlich auch Respekt zollen. Ich fand's 'ne neue, gute Idee. Sowas sollte man wirklich echt fördern.» Recht hat er. Denn im Fernsehen ist Behinderung noch immer viel zu selten normal. Selbst öffentlich-rechtliche Sender haben trotz Übertragung der Paralympics oder der SendungMenschen - Das Magazin (ZDF) und Nachrichten mit Gebärdendolmetscher noch viel Nachholbedarf darin, Betroffene nicht nur auf ihre Behinderung zu reduzieren, sondern sie gleichwertig zu integrieren - vor und hinter der Kamera.
Quelle: Nachrichten - Medien Nachrichten - «Supertalent 2012» - Diese Rollstuhl-Tänzer belehren Dieter Bohlen
Foto: (c) RTL / Andreas Friese
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